Gastbeiträge
Rüdiger Görner
Wir freuen uns, dass der Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner unsere Homepage mit eigenen Texten bereichert.
Gastbeiträge
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Foto: schafgans dgph
Er war Professor für Neuere deutsche Literatur an der Queen University of London und ist Gründungsdirektor des Zentrums für Britisch-Deutsche Kulturbeziehungen. Von 1999 bis 2004 war er der Direktor des Institute of Germanic Studies der University of London. Dort gründete er 2002 das Ingeborg-Bachmann-Zentrum für Österreichische Literatur.
Als Gastprofessor lehrte er an den Universitäten Tokyo (Todai), Mainz, Hannover, Heidelberg, Wien und Salzburg.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaft und Musik in der deutschsprachigen Literatur, Dichtungstheorie der Jahrhundertwende und die deutsche Romantik.
Rüdiger Görner ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Am 31. Mai 2017 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.
Anton Bruckner, der scheinbar ohnmächtig von den Wechselfällen des Lebens Getriebene, stellte diesen den Machtapparat des Chores und des Orchesters, seiner Symphonien und Manifestationen des Glaubens, der Messen gegenüber. Getrieben hatte er sich sogar in seiner Ausbildung zum Organisten und Lehrer gefühlt, wobei er diesem Getrieben-Werden einen selbst entworfenen Arbeitsplan, der bis zur Selbstpeinigung reichte, entgegensetzte.
Das große Orchester gegen das Kleinbürgerliche seiner Herkunft – ein Machtinstrument, in dem sich jederzeit jede Stimme segmentieren ließ, solistisch werden konnte, um dann wieder einzutauchen ins unisono der Gleichgestimmten.
Aus Bruckners Bildungswillen wurde Kunstwille. Komponieren als Willensakt, allen nur denkbaren Stimmen und Stimmungen Geltung zu verschaffen. Jedoch nur in den Messen, den Glaubensmanifesten, sollte die menschliche Stimme zur Geltung kommen.
Bruckner mied, ja verachtete das Solistische, das der Musikbetrieb der Zeit von Musikern forderte. Nur auf der Orgelbank zeigte er sich als Solist – mit dem Rücken zum Publikum. So auch als gelegentlicher Dirigent, was ihn nur dann befriedigte, wenn er seine Messen aufführte. In ihnen ging alles Solistische im Sakralen auf.
Bruckner mied Seen, schätzte aber Flüsse. Die Kaltwasserkuren, die er gegen seine Depressionen in Bad Kreuzen über sich ergehen ließ, waren dagegen des feuchten Elements zuviel. Zu seiner Überfahrt über den Ärmelkanal äußerte er sich nicht.
Bruckner dachte musikalisch – bis zur Tonspaltung. Der Ton als Atom. Was er in ihm freisetzte, war die Energie, die in seinen Symphonien wirkte.
Seine Messen gingen im Symphonischen auf, aber das Sakrale profanierte sich dadurch nicht.
In Bruckners Musik walten Urnatürliches und Sublimes, Vergeistigung des musikalischen Materials und Lautung des Humanen. Diese Musik interpretieren bedeutet, dieses Walten der differenten Werte aufzuführen. Darin äußert sich ein subtiles Paradoxon: die Klangfolgen wirken immer auch, als seien sie etwas Gleichzeitiges. Der melodische Prozess enthüllt sein Begehren, simultan zu klingen.
In den Satzanfängen Brucknerscher Symphonien zelebriert die Musik ihr Erwachen und den akustischen Schein unaufhörlicher Verwandlung des Klangmaterials.
Symphonische Klangeinheiten haben bei Bruckner etwas von Losungen. Er zieht sie wie beim Orgelspiel die Register.
Schüler Bruckners wollen gesehen haben, dass er bei seinen wenig(-en) geglückten Auftritten als Dirigent seine Füße bewegte, als bediente er unsichtbare Pedale wie auf der Orgelbank, nur stehend.
Wenn der Eigensinn ins symphonische Komponieren eingeht, entsteht die Illusion, dem Gemeinsinn polyphone Stimmen verliehen zu haben – eine Selbsttäuschung Bruckners, eines jeden Symphonikers?
In der Krypta zu St. Florian, dort wo Bruckners Sarkophag unter seiner Orgel steht, findet sich im Hintergrund unzählige Totenköpfe aufgeschichtet: sein letztes Publikum. Oder sind sie Notenköpfe, um ihren Klang gebracht? Mit den Gebeinen dazwischen als separierte Notenhälse. Das ist nicht makaber, sondern die beständige Verwirklichung von Bruckners letztem Musikwillen.