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Max Brod – der große Unbekannte

Max Brod Ein Sommer Den Man Nicht Vergisst
Autor/Autorin: Max Brod

Seitenanzahl: 388

Sprache: deutsch
Verlag: Wallstein Verlag
ISBN:‎ ‎ 978-3835313385

Max Brod – der Unbekannte

Der Wallsteinverlag hat sich das Verdienst erworben durch die Neuausgabe einiger Werke, Max Brod aus der einseitigen Ecke als Freund und Nachlassverwalter von Franz Kafka herauszuholen und sein Werk wieder zugänglich zu machen. Wer sich damit beschäftigt, erkennt schnell, dass Max Brods Werk zu Unrecht vergessen war.

Der hier vorliegende Band versammelt zwei Romane: „Der Sommer den man zurückwünscht“ und „Beinahe ein Vorzugsschüler“. In beiden verarbeitet der Autor fiktional-literarisch Erinnerungen an seine Jugend. Ursprünglich erschienen die beiden Romane 1952, wenige Jahre nach dem Krieg. Geschrieben hatte sie Brod in seiner neuen israelischen Heimat. Denn im Jahr 1939 konnte der 1884 in Prag geborene Max Brod als einer der letzten gerade noch rechtzeitig nach Palästina auswandern.

Die schreckliche Zeit des zweiten Weltkrieges, Auschwitz, Tod und Vertreibung liegen zwischen dem Erinnerten und der Niederschrift der Erinnerungen. Gleichwohl ragen diese späteren Ereignisse nur wie dunkle Schatten fern aufziehender Wolken in die Romane hinein. Die Erinnerungen an die Jugend, um die es ja wesentlich geht, sind zwar umschattet von der dunklen Geschichte danach, aber Brod belässt es bei gelegentlichen Andeutungen dessen, was später passierte und seine Welt zerstörte.

Angemerkt sei, dass der Band mit einem kurzen hervorragenden Nachwort von Radka Denemarkova abgerundet wird.

Der Sommer den man zurückwünscht

Max Brod erzählt die Geschichte einer deutschsprachigen jüdischen Familie aus Prag, die ihren Sommerurlaub wie stets in Misdroy, einem „billigen“ Ostseebad verbringt. Wir befinden uns im „alten, auswattierten Österreich“, im Jahre 1899.

Der musikalische und literaturbegeisterte Erwin ist 15 Jahre alt, sein Bruder Otto 12 Jahre. Worin der  Zauber dieses Urlaubes lag, an den sich noch Jahrzehnte später der Autor erinnert? Darauf gibt es eigentlich keine Antwort als die Erinnerung selbst.

Die Ferien sind für die Kinder nicht ganz sorgenfrei, denn die Mutter führt den Haushalt in  tyrannisch-unberechenbarer Weise. Erwin hat Angst vor der kleinbürgerlichen, pathologischen Mutter (ihr Motto lautet: „Die Hausordnung über die Weltordnung“), die ihrem herrischen Temperament freien Lauf lässt. Sie wird als unsensibel und rau geschildert, die in ihrem Jähzorn über jedes Maß hinaus schießt. Es deutet sich bereits ihre Krankheit an, die sie schließlich zerstören sollte. Das krankhafte Handeln der Mutter äußert sich beispielweise darin, dass die Haushälterinnen, die ihr nichts recht machen konnten, von ihr stets nach wenigen Wochen wieder gekündigt werden. „Die arme Mutter! Denn sie war mehr zu bedauern als die gleichfalls unglücklichen Mädchen. Diese entflohen ja nach kurzer Zeit diesem Unglück, während die Mutter ständig in seinem Herd und Zentrum verblieb.“

Die Mutter ist für den Sohn jedoch nicht nur ein destruktives, sondern zugleich auch ein konstruktives Wesen. Denn der Sohn, der ab dem vierten Lebensjahr an einer Rückgratverkrümmung litt, wäre ohne ihren energischen Einsatz vielleicht verkrüppelt geblieben oder gar früh gestorben. Er ist aufgrund einer Anweisung eines bayerischen „Wunderarztes“ gezwungen während seiner Kindheit ein Gestell zu tragen, um den Rücken zu dehnen. Um die Arztrechnungen für Erwin zu bezahlen, muss der Vater ein großes Darlehen aufnehmen und zusätzlich abends die Buchhaltung des schwägerlichen Geschäftes mit übernehmen, nachdem er in der Bank sein nicht geringes Tagespensum absolviert hat. Der Vater, der erst später zur Familie in den Urlaub hinzu stoßen soll, bleibt im Roman aber blaß. Wir erfahren wenig mehr als das er seine Arbeit nicht liebt und gegenüber seiner Frau nachgiebig und schwach ist.

Erwin, der aus dem liberalen Prag bekommt, hört 1899 in den Ferien dann auch die erste antisemitische Bemerkung, die einen erschreckenden Eindruck auf ihn machte. Der Judenhass war wie „ein Waldungetüm, von dem man bisher nur sonderbare unglaubliche Beschreibungen gelesen hat und das mit einem Male da ist, aus seiner Höhle ins Tageslicht gekrochen.“ Dies ersten Anzeichen einer nationalistischen Verirrung überschattet das Sommerglück 1899 jedoch nicht, es sind nur kleine, kaum wahrnehmbare Anzeichen, die aber vor dem Wissen dessen, was in späteren Jahrzehnten geschehen ist, im Rückblick also, umso deutlicher ins erinnernde Bewusstsein treten.

Insgesamt stehen aber die angenehmen Aspekte des Sommers im Vordergrund: die Zugreise von Prag über Berlin an die Ostsee, die Spielkameraden, die ebenfalls aus Prag stammende Familie Speyer, das Vergnügen an der Kurkapelle, Klavier- und Gesangsdarbietungen oder die heimliche Lektüre hinter dem Rücken der Mutter. Im eigentlichen Mittelpunkt des Buches steht jedoch Erwins Bruder Otto, der, wie uns der Erzähler vorausdeutet, später in Auschwitz zu Tode kommen wird. Mit bewegenden Worten widmet der bescheidene Brod seinen Roman diesem ermordeten Bruder.

Neben aufregenden, schönen und skurrilen, aber fürs spätere Leben unbedeutenden Erinnerungen, blitzen auch Geschehnisse auf, die sich ins Gedächtnis eingebrannt und das Leben mehr als andere beeinflusst haben. So bleibt dem Autor ein Spruch in Erinnerung, den ein Gast einmal gedankenlos in ein Erinnerungsbuch einträgt: „lerne zu leiden, ohne zu klagen. Strebe nach dem Höchsten, und du erreichst die Mittelmäßigkeit!“ Dies Wort von der Mittelmäßigkeit prägt sich tief in die Seele des Kindes ein. Wozu eigentlich noch streben – und gar nach dem Höchsten? Ist das ganze Leben und alle Anstrengung nicht eine unwürdige Komödie?

Erwin erlebt in den Ferien das Glück der Musik. Sein unerfahrenes Empfinden ist noch nicht abgestumpft durch das viele Vergleichen und Verwerfen, sein musikalischer Frühling ist noch rein und unverbraucht. Diese Frische des erstmals Erlebten bringt Max Brod mit der Lebensweisheit des älteren Autors 50 Jahre später in eine sehr gelungene Mischung: im Augenblick des Erlebens gehen „die guten, ewigen Dinge leicht und leise an unseren Seelen vorbei, und wir erkennen erst viel später, dass sie das eigentlich Schöne unseres Lebens gewesen sind.“

Ebenso lernt man erst im Rückblick, dass das, was zu gegebener Zeit im Leben an die Reihe kommt und dann zum ersten Mal tatsächlich kalt erlebt wird, dass es identisch ist mit dem, worauf man sich so lang und gründlich vorbereitet hat. „Niemand sagt es einem: du, jetzt stehst du lebendig an der Stelle, die im Buche mit einem Ausrufzeichen markiert und doppelt unterstrichen war. Es kann vorkommen, dass man über das Erlebnis weggeht und zunächst gar nicht bemerkt, dass dies und kein anderer der „Moment“ ist. Immer klafft ein Spalt zwischen vor Fantasie und Erlebnis.“

Besonders scheint sich dem Autor bereits in Misdroy erschreckend eingeprägt zu haben, dass das Gute nie ohne das Schlechte, Reinheit nie ohne den Makel zu haben ist. „Da hat also eine gute Macht – nennen wir sie Gott oder sonst irgendwie – den Menschen ein so herrliches Geschenk gemacht: die Musik. Sie war göttlichen Ursprung, gewiss, führte zu unermesslicher Seligkeit, sie brachte Erlösung, nur sie!“ Aber der Teufel, so die gegenwendige Überlegung, bleibt nie träge: gerade wenn etwas Gutes auf Erden geschieht, dann erwachen seine Kräfte erst recht, dann sieht er seine Zeit gekommen. Nehmen wir die Französische Revolution, so der Autor: welch „ein Ausbruch guten Willens am Anfang, Edelmut, Verzichte, Selbstverleugnung oder spontane Aufopferung der eigenen Interessen für das Gemeinwohl. Aber hatte der Teufel etwa klein beigegeben? Wie viel Gemeinheit folgte: satanischer Blutdurst, Angeberei, private Racheakte, Hass, Schlächterei und Krieg. Und die Hölle machte in Summe kein schlechtes Geschäft bei der ganzen Sache, die am Anfang wie ein Bruch mit allem Bösen ausgesehen hatte.“ Überall nistet der Teufel sich rasch da ein, wo das Gute entsteht, und richtet dort seine Bakterienkolonien der Lüge ein, seine Gehässigkeiten, Schlechtigkeiten und Intrigen.

Besonders berührend ist es, wenn Brod diesen Gedanken der notwendigen Befleckung alles Guten nun auch bei seinem Vorbild, seinem Bruder Otto am Werke sieht. Auch der gute Bruder Otto scheint eigentlich böse und intrigant zu sein. Das Missverständnis über ihn wird jedoch schnell aufgeklärt und es zeigt sich doch, dass er ein anständiger Kerl ist. „Das makellose, das ich gesucht habe – da ist es“, so der Autor.

Brod singt nicht weniger als eine empathische Hymne auf seinen Bruder. Den Menschen zu feiern, jeden Menschen zu rühmen, der die Gabe in sich fühlt, uneigennützig das Gute zu tun, das macht den humanistischen Kern des Buches aus. Zu welchen großartigen Taten, zu wie viel Liebe und Erlösung war doch der Mensch ausersehen! „Niemand hätte damals in Misdroy geahnt, dass Otto, das Urbild dieses edlen Menschen nach Jahrzehnten eines ehrenhaft geführten Lebens, allem schönen hingegeben, selbst Musiker und Dichter, immer auf die Wohlfahrt seiner Nebenmenschen bedacht, die er mit Zartgefühl förderte, im Gift einer Gaskammer erstickt wurde.“ Kann man sich eine schönere Hymne an den Bruder denken? Und gibt es eine drastischere Beschreibung der nazihaften Inhumanität? Dieser Roman ist schon alleine wegen dieser rühmenden Ehre, mit der Brod das Gute im Menschen besingt, unbedingt lesenswert.

Beinahe ein Vorzugsschüler

Dieser zweite Roman des Buches ist ebenfalls eine Hommage, und zwar an einen „unauffälligen Menschen“, im Roman heißt er Vikmath, womit Brods bester Freund Max Bäuml gemeint ist, der an einer Herzkrankheit litt und jung 1908 starb.

Er beginnt unmittelbar in der Gegenwart des Verfassers in Tel Aviv der 1940er-Jahre, in einer gefährdeten Stadt, in der immer wieder Gewehrschüsse von Arabern, die sich gewaltsam gegen den neu gegründeten Staat Israel wehren, zu hören sind. Der Ich-Erzähler blickt auf seine Prager Schulzeit, die Jahrzehnte zurückliegt, zurück. Hauptperson ist der Fast-Vorzugsschüler Vikmath, dessen schulische Leistungen zum Vorzugsschüler nicht ganz heranreichen.

Dieser Vikmath hat eine pièce touchée-Seele. Die bekannte Schachregel besagt, dass der Spieler, der einen Stein berührt hat, verpflichtet ist, mit ihm zu spielen, wenn der Partner auf diesem Recht besteht. Vikmath ist demnach ein Mensch, der zu seinen Entscheidungen und Ansichten steht, einer, der sich nicht biegen oder gar brechen lässt.

Er, der Fast-Vorzugschüler überschreitet niemals die Linie, durch deren Überschreiten man zum Vorzugschüler wird. Diese Linie ist von der Obrigkeit sehr genau und auf ausgeklügelte Art gezogen worden. Vikmath bleibt also bei jedem Semesterabschluss um ein oder zwei Schritte hinter dem Geforderten zurück. Hier ist ein überaus feiner, grundanständiger Mensch, der alle Winkelzüge zum eigenen Nutzen verschmäht, ein Charakter; Maßstäbe, von denen in der schulmäßigen Bewertung nicht die Rede ist. Brod schildert demgegenüber eine andere Gruppe von Heranwachsenden, um die es ganz anders bestellt ist: an deren Spitze steht der elegante, schmierige und egoistische Hummel. Er ist der Anführer eines Dandy-Kreises, Anführer von Stadtpark-Protzen.

In diesem Roman kann das Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Prag zu Beginn des vorigen Jahrhunderts nicht anders als entspannt beschrieben werden. „Wir verkehrten völlig arglos miteinander, die Unterschiede der Abstammung machten sich wenig oder gar nicht bemerkbar.“

Die Erinnerungen an seine Schulzeit und den Freund Vikmath werden von Max Brod gekonnt mit dem Eigentlichen und Wesentlichen verwoben, nämlich der durch eine Seelenverwandtschaft gegründeten Freundschaft zweier Menschen. Eine solche, in der beide belehrt werden, eine, die beide lernen und geistig wachsen lässt. „Geistig wachsen, in eine Geisteswelt hineinwachsen, es gibt nur dies und alles andere, was Wert hat, weist auf dieses eine hin.“ Wer dagegen in sein Ich eingesperrt ist, ist in seinen Tod eingesperrt.

So wie Vikmath in der Schule nur um des Wissens willen gelernt hat, nicht um auf den Professoren Eindruck zu machen, so hat er sein ganzes Leben eingerichtet, bescheiden und ohne Lärm. Während dem Ich-Erzähler das gnädige Geschick eines der für ganz Prag bestimmten zehn Ausreisevisa nach Israel zuspielte, hat Vikmath kein Glück. Er kam nach Theresienstadt.

Das Ende des Romans erinnert fast an Leo Perutz, der ebenso die Verwirrung des Lesers am Schluss liebte, denn das Ende passt nicht zu seinem Anfang. Während am Anfang Vikmath scheinbar nach Tel Aviv gekommen ist, stellt sich am Ende heraus, dass dies nur ein Trugbild war: es war alles nur Erinnerung.

Die beiden Romane gehören zum Besten, was ich seit langem lesen durfte. Es ist das Mitgefühl, die Empathie, die ganz uneigennützige Freundschaft, die Max Brod in seinen Romanen auszeichnen. Es geht ihm nie um wilde Abenteuer, um die leichte Sensation oder lustige und eingängige Geschichten. Daher gibt es in seinen Romanen eine vornehme Zurückhaltung, eine ganz eigene Zärtlichkeit und Melancholie, etwas schwer beschreibbar Geistiges. Brod beschreibt Freundschaft und Seelenverwandtschaft, Redlichkeit und Bescheidenheit sowie das Gute im Menschen.

Er war, so das Nachwort, bestürzt über die Struktur der feindlichen und unbarmherzigen Welt. Er war Humanist und deshalb auch Weltbürger und kein Nationalist. Seine Romane stehen ganz im Dienst des Ideals des Guten, weil sein Glaube, dass die Welt einen Sinn hat, tief in Brod verwurzelt war. Eine solch humane Einstellung zu Leben und Mensch verdient es, in Literatur bewahrt und aufgehoben zu bleiben.