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C. H. Beck Verlag

560 Seiten

Rilke – Dichter der Angst

Manfred Koch legt hier eine vorzügliche Biographie Rainer Maria Rilkes vor, weil er Leben und Werk gegenseitig eng verschränkt, was gerade bei diesem Künstler, der sein Leben ganz der Dichtkunst gewidmet hat, sehr angemessen ist.

Der Autor gibt freilich auch zu, dass er – das dürfte für die meisten Leser Rilkes gelten – nicht immer mit gleich großer Begeisterung ein Rilke-Leser war. Noch während seines Studiums fand der Autor die Gedichte parfümiert und den religiösen Verkündigungston seiner Verlautbarungen zur Kunst albern. Zum Glück hat sich dies später geändert.

Der Blick durchs Schlüsselloch ins Private wird in dem Buch immer wieder umgewendet und gebrochen durch den Blick auf Rilkes Schreibtisch und umgekehrt. Es mag zwar interessant sein, wenn man weiß, woher etwa die Ängste Rilkes kamen, die ihn lebenslang begleiteten, aber diese sind für uns ja nur bedeutsam, insofern wir es auch mit literarisch geformten Ängsten tun haben. Rilke als Dichter der Angst vorzustellen, mag auf den ersten Blick überraschen. Manfred Koch kann seine These aber gut begründen, nicht nur mit Verweis auf Rilkes Angst-Buch „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“.

Die Biographie leuchtet auf 476 Textseiten und einem ausführlichen Anhang viele Details aus, ohne sich in ihnen zu verlieren, und sie arbeitet besonders die großen Lebenslinien des Dichters heraus, seine lebenslangen Obsessionen und Eigenarten. Woher kamen diese? Sicher auch aus einer schwierigen Kindheit und dem schwierigen Verhältnis zur Mutter. Rilke, so der Autor, litt gar lebenslang an einer „Muttervergiftung“. Gleichwohl prägte sie ihn auch, so hatte er von der Mutter die Eigenschaft mitbekommen, zeitlebens Wert auf ein makelloses äußeres Erscheinungsbild zu achten und den Wert auf ein schönes Ambiente zu legen sowie eine lebenslange Affinität zur Adelswelt.

Obwohl ihm oft das Geld fehlte, hielt er mit erstaunlicher Unbeirrbarkeit am Lebensstil eines Edelmannes fest. In der Eisenbahn fuhr er Erste Klasse, stieg in den besten Hotels ab und erwartete stets, von Dienern umsorgt und von Köchinnen vegetarisch-verständig bekocht zu werden. Diese elitäre Haltung ist zwar wenig sympathisch, aber der Autor hält Rilke zugute, dass darin seine enorme Schutzbedürftigkeit zum Ausdruck kam. Denn in dieser Haltung kamen ihm die Menschen nicht zu nahe, hier waltete ein anerkannter Sinn für Distanz und Diskretion. Rilke suchte also im Luxus nicht die Protzerei, sondern Geborgenheit und Heimat. Schließlich verstand er es auch mit dieser Eigenart, ein Beziehungsnetz mit adligen Familien zu knüpfen, ohne welches er vielleicht nie derart literarisch produktiv geworden wäre.  Natürlich lernt der Leser dieser Biographie dann auch die wichtigsten Bezugspersonen Rilkes kennen, zu denen nicht zuletzt auch der Verleger Anton Kippenberger gehörte.

Nach dem anfänglichen Schock der Großstadt wurde Paris später sein geliebter Ankerplatz, zu dem er immer wieder gerne zurück kehrte. Jenen persönlichen Schock spürt jeder Leser seiner „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Es ist eine der ersten Romane, in dem virtuos der Ekel ästhetisiert wird. In diesen Rahmen stellt Manfred Koch auch Rilkes Gedicht „Der Panther im Jardin des Plantes, Paris“, in dem der Panther als eine Unglücksfigur wie die menschlichen Elendsgestalten gezeichnet ist. Das Gedicht schafft ein Stimmungsbild der Ausweglosigkeit und den Eindruck einer maschinenhaften Motorik.

Eine lebenslange Obsession Rilkes war das Nicht-festgelegt-werden-Wollen vor allem durch die, die einen lieben. Hier deutet sich an, dass das persönliche Lebensglück und das literarische Gelingen bei Rilke in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander standen, sehr zum Leidwesen der vielen Frauen. Von daher ist auch Rilkes Nähe zu Hölderlin verständlich, denn beide sind gefährdete Grenzgänger in jener Zone, in der Schönes und Schreckliches unentwirrbar ineinander übergehen. Der Weg durch die Hölle sei nun einmal sein Königsweg zur Kunst, so Rilke. Oder, um ein anderes Bild zu verwenden: je verzweifelter Rilke wurde, desto besser wurden seine Texte. Fallen und Steigen in eins. Die Fontäne ist nicht umsonst eines der Lieblingsmotive seines Werkes.

Rilkes Glück lag allein im gelingenden Schreiben, er lebte hin auf einer jener Inspirationen, die er so oft im Herbst und nach erlebtem (meist kurzem) Liebesglück mit Frauen erfahren hatte. Der Dichter ging in manchen Jahren eine erstaunliche Fülle neuer Beziehungen zu Frauen ein, sie waren zwar überwiegend nicht intim, wurden aber oft in einem leidenschaftlichen Stil brieflich zelebriert. Rilke konnte unwiderstehlich auf Frauen wirken, deren Schönheitsempfinden in erster Linie der Sprache galt. Das sexuelle Verhältnis zu den Frauen bestand oft nur wenige Wochen oder Monate. Rilke war aber keineswegs der aktive Verführer, er geriet – halb gezogen – in Beziehungen hinein, aus denen er sich meist nach einer kurzen Zeit der Euphorie wieder lösen wollte.

Rilke sah in der Liebe immer die Gefahr des Hineingezogenwerdens in einengende Beziehungen. Liebe – das sollte eine weitgehende, die Schranken der Persönlichkeit aufbrechende Erfahrung sein, die kosmische Kräfte ins Ich einfließen lässt. Die Gefahr, einer Person verhaftet zu bleiben und nicht die gewünschte Weite zu gewinnen, hielt Rilke für die allergrößte. Er war daher jemand, der in seinen Liebesbeziehungen immer auf dem Absprung zum Schreibtisch war und von der Verliebtheit nur den nötigen Anstoß mitnehmen wollte. Dem Künstler kam es darauf an, in der Liebe erweckte große Gefühle nicht zu leben, sondern sprachlich produktiv zu machen. Rilke nannte das selbst die Feindschaft zwischen dem Leben und der großen Arbeit.

Dabei war die literarische Anfangsphase keineswegs vielversprechend, denn Rilke schrieb wirklich miserable Gedichte: gestelzt, süßlich, altklug, sentimental, kurz: peinlich, sind nur einige der Adjektive. Hiervon befreite ihn erst die 15 Jahre ältere und verheiratete Lou Andreas-Salome, die die wichtigste Frau in Rilkes Leben wurde. Von 1897 bis 1900 waren sie ein Liebespaar. Ihr verdanken wir übrigens einige der klügsten Beschreibungen des Charakters von Rilke: „dieser Dichter des Überzartesten war robust, ja brutal, wenn es um die Durchsetzung seiner literarischen Berufung ging.“

Erst durch Lou Andreas-Salome und später Rodin lernte er, dass Gedichte aus reichhaltigen Erfahrungen inspiriert sind. Um eines Verses willen müsse man viele Städte sehen, Menschen und Dinge. Auch das ruhige, sachliche Schauen unter Abkehr von spontanen Gefühlsreaktionen hatte er in der Schule Rodins gelernt. Mit seinen sogenannten Dinggedichten gelang es Rilke, sich von direkten Gefühlsaussagen zu befreien und alles subjektive Empfinden in die Gestaltung des Dinges verlegen. Ein Ding im emphatischen Sinn war für Rilke ein Gegenstand, der mit dem Raum kommuniziert, Weite um sich schafft. Und dies gelingt dem Ding, sobald es kein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand mehr ist, sondern sich gegen die Alltagswelt in sich selbst abschließt. Dinge in diesem emphatischen Sinne lassen keine Konsumtion zu, die alles sofort auf bekannte Inhalte, Stoffe oder Ideen reduziert.

Dann wollte Rilke auch von Bewegung erfüllte, von Energien durchdrungene Dinge, schaffen. Kunst muss nach Rilkes Ansicht wirken, so existenziell- erschütternd, dass ihre Erfahrung nur mit der Wucht religiöser Erweckungserlebnisse vergleichbar ist. Dies erläutert Manfred Koch an Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apollos. Das Hervorbringen von Kunstwerken war für Rilke ein religiöser Akt, gleichgültig ob die Künstler an Gott glauben oder nicht. Der Künstler hat sich den dunklen Kräften am Grunde seiner Seele anheimzugeben, um aus ihnen heraus immer neue Gestalten zu erschaffen. Das Beharren auf dem Wunderbaren und allem Willentlichen entzogenen Geschehen in den Tiefen der Seele war existenziell wichtig für Rilke.

Zur Besonderheit seiner Gedicht gehört auch die eigenartige Naturerfahrung als ein rhythmisches Ereignis. Rilke hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sein Schreiben vom Klang und Rhythmus der Wörter als Spiegelung dieser Naturerfahrung lebte. Welt strömt in sein Inneres hinein und wird Empfindung und Wort. Ein Bergrücken, der wie wir umgangssprachlich sagen, sich zu einer Wiese „neigt“, das war in solcher Wahrnehmung ein wirkliches Sich-Hinabbegeben und emotionales Zu-Neigen. Ein solches Fühlen und Erfühlen der Dinge braucht Zeit und Erfahrung, die in den Augen Rilkes in der modernen Welt immer mehr vernichtet wird. Seine Weltsicht fühlte er durch die permanente Steigerung der Veränderungsgeschwindigkeit in der kapitalistischen Gesellschaft verloren gehen.

Zur eigenartigen Naturerfahrung  gehört es bei Rilke auch, sie als All-Einheit zu sehen, wozu auch Leben und Tod gehört. Rilke deckt den Unterschied nicht gänzlich zu, ist aber bemüht, ihn zu versöhnen, ohne auf das christliche Konzept des jenseitigen Lebens zurück zu greifen. Ganz diesseitig, weltlich dient der Tod dem Leben, indem er es vitaler macht und offen hält für eine Erweiterung der Erfahrung.

Fazit: eine klare Leseempfehlung für dieses hervorragende Buch, weil es gelehrt ist und sich trotzdem leicht lesen lässt.

Martin Kasperzyk/ im April 2025