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Perutz Äpfelchen
Roman
Paul Zsolnay Verlag
272 Seiten

Wohin rollst du, Äpfelchen

In dem 1928 veröffentlichten Roman, der in den Wirren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg spielt, kommt Georg Vittorin mit vier Kameraden aus russischer Kriegsgefangenschaft heim nach Wien. Die fünf Offiziere hatten in der Gefangenschaft feierlich geschworen, sobald wie möglich nach Russland zurückzukehren, um sich für die erlittenen Qualen am Kommandanten ihres Gefangenenlagers zu rächen. Es war der Traum aller Gefangenen: einmal wiederkommen und mit denen, die einen gequält haben, abzurechnen. „Ein Gedanke, der über böse Stunden hinweg hilft.“

Während sich die anderen jedoch schnell wieder in den Alltag Wiens einfinden und sich nicht mehr an ihr gegenseitiges Versprechen gebunden fühlen und es bagatellisieren, versucht Vittorin mit allen Mitteln wieder nach Russland zu kommen, um sich an diesem verhassten Kommandanten Seljukow zu rächen. Die Erinnerung an die schmachvollen Stunden in der Gefangenschaft „brannte wie ätzendes Gift in seiner Seele“. Dabei handelt es sich aber eher um ein Krankheitssymptom, um eine schwere Psychose.

Es entwickelt sich eine spannende Verfolgungsjagd. Vittorin muss die Frontlinie zwischen den roten und den weißen Truppen überwinden, kommt ins Gefängnis, in dem er die Kämpfe der Gefangenen untereinander miterlebt. Hier lernt er auch den Sozialrevolutionär Artemjew kennen. Artemjew wird jedoch später durch eine Unvorsichtigkeit von Vittorin von der Polizei überrascht und sprengt sich in die Luft. Auf der Suche nach Seljukow kommt Vittorin schließlich nach Moskau, wo er weitere Abenteuer erlebt.

Der Rest der Geschichte wird in schnellem Tempo erzählt: Vittorin kommt nach Istanbul, wo er mit der schönen Tänzerin Lucette zusammen lebt. Diese verlässt er, als er erfährt, dass Seljukow in Rom ist. Die Spur führt dann weiter nach Mailand, Genua, Barcelona, Narbonne, Paris und wieder zurück nach Wien. Ausgerechnet am Ausgangspunkt in Wien kommt es zum Showdown mit Seljukow.

Besonders eindringlich erzählt Perutz die Grausamkeit des Krieges, in dem die Menschen ohne Erbarmen abgeschlachtet werden. Wie heißt es an einer Stelle treffend: die Hölle spricht jetzt, nicht der Himmel. Die Mörder verbergen sich dabei auch hinter der bürgerlichen Maske. „Das hochmütige Lächeln des roten Offiziers hielt ihn fest, erfüllte ihn mit hilflosem Zorn. Wie er da steht mit seinen Lackstiefeln und Reithosen, elegant bis zu den Fingerspitzen, der parfümierte Mörder. Zu Hause wäscht er sich die Hände in Kölnisch-Wasser, liest französische Romane und die Weiber sind hinter ihm her.“

Georg Vittorin ist jedoch kein Held, er zieht nicht die Sympathie des Lesers auf sich. Seine Treue gilt nicht den Frauen oder der eigenen Familie, dem Vater und den Schwestern, sondern seinem Hass gegen Seljukow. Wenn es in diesem Roman überhaupt positive Figuren gibt, dann sind es die Unbeugsamen, die aber wissen, dass sie auf verlorenem Posten stehen. Unweigerlich denkt der Leser hier an das heutige Russland und die Figur Nawalny.

Das Ungewöhnlichste geschieht am Schluss als Vittorin endlich mit dem verhassten Seljukow zusammen trifft.

Vittorin verstrickt sich in das Schicksal, dass mit ihm spielt, umgekehrt ist er jedoch auch Schicksal für andere: durch sein hasserfülltes Tun müssen andere sterben. Auch dies zeigt das Grauen in Zeiten des Krieges: ein Grauen über die moralische Selbstvergessenheit des Antihelden und die Leichtigkeit, mit der er über den Schrecken und das Schicksal anderer hinweggeht.

Perutz‘ Roman ist spannungsreich und er zeigt illusionslos, wie Menschen in den Wirren des Krieges, zu überleben versuchen. Aus ihm weht uns ein eiskalter Wind entgegen, der uns frösteln lässt.

Im November 2024