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KiWi-Taschenbuch

208 Seiten

Tarabas – ein Gast auf dieser Erde

von Joseph Roth

Joseph Roths dramatische Erzählung ergreift den Leser von der ersten Zeile an und bannt ihn sofort in die Geschichte vom unbändigen Nikolaus Tarabas. Die Handlung des 1934 erschienenen Romans beginnt in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in New York. Hier lebt der Katholik Nikolaus Tarabas, der aus dem galizischen Dorf Koryla stammt.

Als abergläubiger Mensch sucht er eines Tages eine Wahrsagerin auf, die ihm sein unglückliches Schicksal voraus sagt: „Sie werden ein Mörder sein und ein Heiliger.“ Wie mehrfach in dem Roman werden damit zukünftige schicksalhafte Ereignisse im Leben von Tarabas bereits vorher dunkel angedeutet. So heißt es an anderer Stelle: eines Abends beging er eine Gewalttat, die den Lauf seines Lebens verändern sollte. Dieses Stilmittel der Prophetie, in dem in etwas geheimnisvolles vorausgeleuchtet wird, erhöht die Spannung, passt aber auch gut in die religiöse Grundstimmung der Erzählung. Denn der Roman bedient sich einiger Stilmittel aus der Legendendichtung, wie bereits einem der ersten Kritiker, nämlich Hermann Hesse auffiel. Legenden erzählen ein religiöses Geschehen, worin vor allem heilige Personen und Wunder vorkommen.

Der Heißsporn Tarabas ist mit dem Mädchen Katharina zusammen und betrachtet sie als sein Eigentum; er ist furchtbar eifersüchtig. Ihren Arbeitgeber, ein Gastwirt, schlägt er eines Tages brutal zusammen und flieht daraufhin in der Meinung, er habe ihn zu Tode geprügelt. Er hält sich für einen Mörder, wie es die Wahrsagerin vorausgesagt hatte. Die Nachricht vom Krieg zwischen Österreich und Russland 1914 elektrisiert ihn und er entschließt sich, der „steinernen Stadt“ New York den Rücken zu kehren und wieder nach Europa zu gehen und in den Krieg zu ziehen. Er verlässt Katharina ohne Schuldgefühle und vergisst seine Missetaten scheinbar schnell. Tarabas ist wahrlich kein sympathischer Mensch, er gehört zu denen, die sich leicht berauschen lassen, deren Herzen unergründlich sind und bei denen man immer mit Überraschungen rechnen muss. Ein Mensch extremer Emotionalität, ohne inneren moralischen Kompass.

Bevor er in den Krieg zieht, besucht Tarabas noch seine Eltern. Hier wird er jedoch enttäuscht, da sie ihn als heimgekehrten Sohn nicht mit offenen Armen aufnehmen. So hatte er es sich nämlich ausgemalt, wie im biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn im Lukasevangelium. Stattdessen behandelt man ihn zu Hause allzu gleichgültig. Und als er seine Cousine Maria wollüstig verführt, wird er vom Vater fort gejagt. Man kann in diesem gescheiterten Versöhnungsversuch ein Gegenbild zu jenem biblischen Gleichnis sehen, denn bei Tarabas fehlt die innere Wandlung und ehrliche Reue und bei den Eltern die Bereitschaft, den Sohn trotz seiner Verfehlungen wieder in ihre Herzen aufzunehmen.

Der erste Weltkrieg wird nun seine Heimat. Eine große und blutige Heimat. Als Soldat ist er ganz in seinem Element und kann seine wilden Triebe und seine hitzige Natur ausleben. Er wird Offizier und führt seine Untergebenen mit eiserner Hand. Der Krieg ist für ihn eine „großartige“ und herrliche Sache. Man schießt einfach, greift an und verteidigt, man bringt andere um, man krepiert. Er lernt die schwere Trunkenheit kennen und die flüchtige Liebe. Vergessen und ausgelöscht sind elterliches Haus und Hof, Vater und Mutter und die Cousine Maria.

Roth zeigt die Verrohung eines Menschen im Krieg, denn Tarabas gibt sich ganz dem Kriegsgemetzel hin: dem Totschlag, der Liebe, Eifersucht, dem Aberglauben, dem Morden, der Grausamkeit, dem Trunk und der Verzweiflung. Tarabas ist freilich kein naiver und selbstmörderischer Draufgänger, er weiß seine Person mit der Aura von Autorität zu umgeben, die immer subtil mit Gewalt droht: folgst du mir nicht freiwillig…

Bei seinen Soldaten ist er daher gefürchtet, aber auch beliebt, weil er mit Haut und Haaren Soldat ist. Noch ist er der gewaltige und starke Tarabas, vom Hochmut erfüllt. Ein Hochmut, der – wie es heißt -den Mächtigen dieser Erde die Vernunft raubt.

Eines Tages begegnet Tarabas einem fremden Soldaten: es ist ein rothaariger Jude und es ist Sonntag. Der Abergläubige sieht darin wieder eines jener Zeichen für seine schlimme Zukunft. Von diesem Tage an beginnt sich die Welt des Hauptmanns Tarabas zu verändern, wie es wieder in dunkler Vorankündigung heißt. Der Roman über einen entgrenzten, hemmungslos-wilden Mann, dem das eigene Leben und das Leben der anderen nichts bedeutet, nimmt nun das bedeutende Thema des Verhältnisses des Christentums zum Judentum auf. Ich erinnere daran, dass der Roman 1934 in Roths Exil, also nach der Machtergreifung Hitlers geschrieben wurde. Warum Tarabas gleich zu Beginn der Erzählung als Katholik bezeichnet wird, erhellt sich erst in dem nun Folgenden.

Nachdem der Krieg 1918 beendet ist, steigt Tarabas aus den Trümmern der alten Armee als neuer Oberst der neuen auf und bekommt den Auftrag, in der Garnison Koropta ein Regiment aufzustellen. Auch hier führt er sein soldatisches Leben weiter. Mehr noch als der Schnaps wärmt ihn die Eitelkeit  als kleiner König anerkannt zu sein, wärmt ihn die untertänige und oberflächliche Freundschaft der Offiziere, wie es heißt. Doch das bei ihm lange untergründig vermutete Unheil tritt dann tatsächlich ein, und zwar in Form eines großen, blutigen Progroms gegen die Juden in dem Städtchen Koropta. Was für die Juden jedoch Unheil bringen wird, wird für den Christen Tarabas zum Segen und Heil, zum Auslöser einer Wandlung zum Besseren.

Als übermütige Soldaten im Wirtshaus auf eine Mauer schießen und dadurch der Putz von der Wand bröckelt, kommt ein Altarbild, das selige Angesicht der Muttergottes, zum Vorschein. An dieser Wand stand einmal ein Altar. Die betrunkenen Soldaten werfen nun dem jüdischen Gastwirt Nathan Kristianpoller vor, die Mutter Gottes mit billigem Kalk beschmiert und unter Mörtel begraben zu haben. Ein Frevel des Juden gegen die Christenheit. Daraus entwickelt sich ein blutrünstiger Progrom gegen die Juden in der Stadt, zu dem sich die Christen in der Stadt leicht aufwiegeln lassen. “Eifriger als der eifrigste Glaube ist der Hass.“ In den Christen erwacht rasend schnell eine unbezwingbare Gier, die Juden zu schlagen und zu treten. Sie werden auf die Straßen gejagt und ihre Häuser angezündet.

Tarabas kann nicht eingreifen, weil er betrunken ist. Als er wieder nüchtern ist, sieht er die unüberwindliche Mauer aus Hass, Misstrauen und Fremdheit, die – wie vor tausenden Jahren -zwischen Christen und Juden steht. Der Antijudaismus wird von Roth als eine Art von „christlichem“ Aberglauben dargestellt, und das Pogrom zeigt, wie dieser Aberglauben von Agitatoren ausgenutzt wird. Der Aufwiegler namens Ramsin weist nicht nur durch seine Fertigkeit als Maler und „sein pechschwarzes Haarbüschel, dass er nicht ohne Eitelkeit in die Stirn fallen ließ“, eine deutliche Ähnlichkeit mit Hitler auf.

Joseph Roth stellt den Aberglauben und Judenhass der Leute eng neben ihr Selbstverständnis als Christen, die in der Verehrung für jemanden besteht, der immerhin die unbedingte Liebe gepredigt hat. Hass und Liebe, Progrom und Feier, beides vereint in denselben Menschen.  Roth zeigt hier ganz radikal die Widersprüchlichkeit im Guten wie im Bösen und die Irrationalität des Menschen auf. Denn die Judenverfolgung hindert die Leute nicht daran, sich weiter als Christen zu verstehen. So machen sich die Bauern der Gegend nach dem Pogrom in langen Prozessionen auf in die Stadt Koropta – unter frommen Gesängen, geführt von Geistlichen in weißen Gewändern. Sie pilgern an den abgebrannten Häusern der Juden vorbei zum freigelegten Altarbild im Wirtshaus. Dieses eine Bild christlicher Prozession entlang der eigenen Schandtaten bringt die ganze Widersprüchlichkeit, die wie selbstverständlich hingenommen wird, auf den Punkt.

Joseph Roth stellt nüchtern fest, dass in diesem Volk, das schon 300 Jahre christlich getauft war, dennoch nach einem fröhlich verbrachten Markttag, nach ein paar Gläsern Bier und beim Anblick eines lahmen Juden ein alter Heide erwacht. Mit deutlichem Blick auf den Beginn der Naziherrschaft ab den 1933er Jahren wird deutlich, wie dünn die Schicht des Humanismus und des Christentums eigentlich ist und wie schnell die Menschen dies wegwischen und sich zu barbarischen Schandtaten hinreißen lassen.

Überhaupt kommen die Christen in diesem Roman nicht gut weg. Schon die Zurückweisung des Tarabas durch die Eltern zeigt, wie fern sie dem christlichen Liebesgebot sind. Und während die Christen im Dorf Koropta nach dem wütenden Progrom an den wehrlosen Juden wieder schnell zur Tagesordnung übergehen als wäre nichts geschehen, gehört die Sympathie des Lesers eindeutig dem Juden Nathan Kristianpoller, Vater von 7 Kindern, der die Horde von betrunkenen Soldaten in seinem Wirtshaus ertragen und Tarabas dort wohnen lassen muss. Lange bangt der Leser um sein Leben, das am seidenen Faden der Launen der Soldaten hängt. Anhand dieser Person zeigt Roth in aller Drastik, dass trotz der dienerischen und entwürdigenden Haltung gegenüber den Christen das Überleben eines Juden von Willkür und Zufall abhängt.

Eines Tages erwischt Tarabas den Juden Schemarjah dabei, wie er heimlich die halbverbrannten Torarollen beerdigen will. Völlig außer sich und wutentbrannt reißt er dem armen Juden ein Haarbüschel aus seinem Bart aus. Er ist über sein Verhalten so entsetzt, dass sich endlich eine tiefe Stimme in ihm regt: „es ist ein verdorbenes Leben, dass du seit Jahren führst. Es begann im dritten Semester deiner Studien. Niemals hast du gewusst, was dir angemessen ist. Das Heim, Katharina, New York, Vater und Mutter, Maria, die Armee, den Krieg verloren. Viele hast du sterben lassen, viele hast du umgebracht.“ Er geht mit sich ins Gericht: was nutzen mir alle Schlachten, die ich mitgemacht habe? Was bedeuten alle Schrecken, die ich erlitten und die ich selbst verursacht habe, wenn ich, der abscheuliche Tarabas, doch den größten Schrecken in meiner eigenen Brust trage. Er begreift schlagartig und rücksichtslos, dass er ein Elender ist. Sein Vater habe ihn durchschaut, manch andere noch haben erkannt, dass er die Welt betrügt und sich selbst. Die Uniform, die er hochmütig spazieren führte, war nichts als eine Maskerade seiner Schwäche und moralischen Verwerflichkeit.

Die Prophetie der Wahrsagerin in New York tritt halbwegs ein. Tarabas wurde kein Mörder im eigentlichen Sinne, aber doch ein Halunke. Und später ändert er sein Leben, wenn er auch kein Heiliger wird, so geht er doch den Bußgang eines zur Einsicht gekommenen Menschen. Seine Vorbildlichkeit liegt darin, dass er die Kraft hat, seine Schlechtigkeit und seine Vorurteile zu überwinden, und dass er aus dem unversöhnlichen Gegeneinander von Juden und Christen zu einem respektvollen Miteinander findet. Dies findet Ausdruck in seiner immer wohlwollenderen Beziehung zu seinem Gastwirt, dem Juden Kristianpoller, und vor allem in der ehrlichen Bitte um Verzeihung bei dem alten Juden Schemarjah. Tarabas erkennt nicht nur die Falschheit seiner Vorurteile gegenüber Juden, sondern er ändert auch radikal sein Leben und büßt fortan auch für die durch seine Taten entstandenen Leiden. Diese Wandlung wird glücklicherweise nicht schwülstig ausgebreitet und mit dem moralischen Marker fett unterstrichen, sondern wie nebenbei erzählt. Joseph Roth ist ein Meister, das Bedeutsamste nicht direkt auszusprechen, sondern leichthin in eine Geschichte zu wattieren.

Tarabas wird also vom Saulus zum Paulus. Auch hier wieder ein deutlicher religiöser Anklang an die Legendendichtung. Er legt die Uniform ab, zieht Zivilkleider an und wird Landstreicher. Sein Weg führt ihn wieder nach Hause zu Vater und Mutter, die noch leben. Doch er erlebt wieder eine Enttäuschung. Solange er sich noch gescheut hatte, das väterliche Haus zu betreten, waren Vater, Mutter, Schwester und die Heimat in ihm Sehnsuchtsorte, das Ferne war ihm so nah und lebendig gewesen. Nun erkennt er, dass es eine törichte Sehnsucht war. Das jetzt so nah vor ihm Liegende ist plötzlich unerreichbar fern. Der Vater ist inzwischen ein fremder und lahmer Mann und die Mutter eine furchtsame, grauhaarige Torin, die ihn gar nicht mehr erkennt. Auch wenn sie ihn erkannt hätten, hätten die Eltern ihn nicht mehr in ihre versteinerten Herzen aufgenommen. Die Zeit für eine Versöhnung mit den Eltern ist vorbei, diese Chance wurde verpasst. Enttäuscht stellt Tarabas fest, dass seine Eltern wie bewegliche Mumien seien, in denen sie selbst begraben sind. Dies ist wieder eine jener Szenen, in denen Roth schonungslos, die Kälte christlicher Herzen, aber auch die seelischen Abgründe von Menschen, verbunden mit ihrem körperlichen Verfall, aufzeigt. Bei Tarabas wird später beides unter umgekehrten Vorzeichen verknüpft: seine Krankheit, die zu seinem Tod führen wird, steht in Gegensatz zu seiner seelischen Gesundung.

Tarabas schlägt sich danach wieder nach Koropta durch und wird krank. Am Ende seines Lebens bittet er den Juden Schemarjah um Vergebung und Verzeihung, die dieser ihm auch gewährt. Auch hierin wird wieder der Gegensatz zu den Christen deutlich: während die christlichen Eltern die Vergebung verweigern bzw. dazu nicht mehr in der Lage sind, wird sie ihm durch den Juden zuteil.

Im Abspann vermerkt der auctoriale Erzähler rückblickend 15 Jahre nach dem Tod von Tarabas, dass die Menschen längst alle diese schrecklichen Dinge vergessen haben. Sie vergessen die Angst, den Schrecken, sie wollen schließlich leben, sie gewöhnen sich an alles. Sie vergessen allerdings auch das Wunderbare, sie vergessen das Außerordentliche sogar schneller als das Gewöhnliche.

Dieser fast schon geschichtsphilosophische Rückblick im Roman zeigt die Figuren als flüchtige, ephemere Wesen des Tages, die schnell vergessen. Sie vergessen das Böse, aber leider auch das Wunderbare, das, was sie Gott näher bringen würde. Menschliches Leben ist so gesehen ein ständiger Wandel von Furchtbarem zu Heiligem, beides höchst unbeständig und stets bedroht, ins Gegenteil umzuschlagen. Joseph Roth zeigt sich einmal mehr als der illusions- und schonungslose Erzähler seelischer Abgründe und menschlicher Unbeständigkeit.

Im Dezember 2024