Spannende Werke warten auf Sie
Buchtipps
Wir laden Sie ein, an unseren gemeinsamen Veranstaltungen, Reisen und Lesungen an besonderen Orten, teilzunehmen. Weiteres erfahren Sie in der jeweiligen Veranstaltungsbeschreibung.
Spannende Werke warten auf Sie
Wir laden Sie ein, an unseren gemeinsamen Veranstaltungen, Reisen und Lesungen an besonderen Orten, teilzunehmen. Weiteres erfahren Sie in der jeweiligen Veranstaltungsbeschreibung.
C. H. Beck Verlag
111 Seiten
Jonas Lüscher
Ins Erzählen flüchten
Jonas Lüscher skizziert in dieser überarbeiteten Fassung seiner Poetikvorlesung aus dem Jahre 2019 an der Hochschule St. Gallen im Wesentlichen den Gegensatz zwischen dem Narrativen und dem Messbar-Wissenschaftlichen. Gleichzeitig verbindet er diese Reflexionen mit seinem persönlichen Weg von der universitären Philosophie ins dichterische Schreiben. Die Frage, ob man der dichterischen Erzählung oder dem wissenschaftlichen Denken verpflichtet sein soll, ist ein zentrales Motiv für den Schriftsteller Lüscher.
Der genannte Gegensatz, in dem zwei ganz unterschiedliche Arten der Weltbetrachtung aufeinander treffen, kann durch weitere Begriffe verdeutlicht werden: Widersprüchlichkeit und Widerspruchsfreiheit, Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Mythos und Logos, Erklären und Beschreiben, das Allgemeine und der Einzelfall. Alleine hierüber könnte man ganze Bücher schreiben.
Der Autor jedenfalls beginnt ganz am Anfang der europäischen Geistesgeschichte, nämlich mit der homerischen Welt, die erfahrungsgesättigt und am Einzelfall interessiert ist. In dieser Welt geht es noch nicht darum, von einer Erscheinung zum wahren Wesen einer Sache vorzudringen. In ihr dringt nun aber (Lüscher stützt sich hier auf Feyerabend) der Philosoph Parmenides ein. Mit ihm beginnt ein priesterliches Sendungsbewusstsein und ein eindeutiger Bildungsauftrag, der sich nach der allgemeingültigen Wahrheit richtet. Erfahrung wird als trügerisch gebrandmarkt und auf der Suche nach der Wahrheit solle man sich besser nicht von ihr leiten lassen. Das logische Argument ist wichtiger als die Erfahrung. Das Werk von Parmenides stellt somit eine Zäsur dar für das Selbstverständnis des Menschen, auf die sich dann später auch Platon stützt mit seinem Vorwurf der narrativen Beliebigkeit des dichterischen Werkes. Dass Narrative wird von ihm gar als moralisch schädlich gebrandmarkt. Mit ihm siegt der Logos endgültig über den Mythos. Wie der Autor selbst bemerkt, ist dieser Parforceritt durch die Geistesgeschichte freilich etwas holzschnittartig und sehr vereinfachend.
In der Neuzeit, so der Autor, ist das mathematisch- naturwissenschaftliche Weltbild vorherrschend. Gefährlich wird dann heute in Zeiten des Internets der vorherrschende Drang, sich auf das Messbare zu verlassen, weil wir dazu neigen, den überaus komplexen Bereich des Lebensweltlichen zu simplifizieren und zu trivialisieren und dabei den Einzelfall und das Individuum zu marginalisieren. Das Diktum der Vermessbarkeit und Vergleichbarkeit bedeutet nämlich, das Schwierige, Sperrige, Komplexe und Widerspenstige auszuschließen. Geliefert wird das Erwartbare und das leicht Konsumierbare. Wir laufen übrigens auch Gefahr Wichtiges zu übersehen, weil es sich eben nicht messen lässt.
Man muss darin eine quantitative Verblendung sehen, wogegen sich dann das Narrative als Gegenentwurf zur Rationalität und Messbarkeit der Welt versteht. In Geschichten erzählen wir daher dasjenige, was sich diesem Diktum entzieht, wir erzählen das, was in der Abstraktion in Vergessenheit gerät. Es gibt eben Dinge, die sich weder verstehen noch befriedigend beschreiben lassen. Dinge, die sich dem Verstand entziehen, dass Unbestimmbare, das Dunkle und Unvernünftige.
Auf der anderen Seite hat freilich auch das Narrative seine Schattenseiten. Denn es erhebt sich der Vorwurf, dass Narrative sei inflationär, die Erzählung sei allgegenwärtig und verantwortungslos, weil sie zur autoritären Machtausübung missbraucht werden kann. Zu nennen ist hier der missbräuchliche Monomythos, wie Beispiel der, dass die USA „the greatest country in the world“ seien. In solchen Mythen soll die kritische Distanz durch emotionale Nähe und die Bestätigung vorgefasster Meinungen abgelöst werden. „Am einfachsten packt man den Leser im Genick, in dem man seine Nase tief in den Sumpf seiner eigenen Ressentiments und Ängste drückt.“ Monomythen geschickt einzusetzen, ist daher die Strategie populistischer Politik.
Das Erzählen von Geschichten ist demnach nicht so unschuldig wie es erscheint. Einerseits gibt es eine Suggestivkraft, die missbräuchlich verwendet werden kann, andererseits ist es die Stärke der Erzählung, dass man sich darin verlieren und versenken kann, sich von ihr berühren lässt.
Lüscher flüchtet sich dennoch ins Erzählen, ins Erzählen in einem guten Sinne freilich, in dem das Vage im Vagen bleiben darf und der Zufall zu seinem Recht kommt.
Die Stärke von Lüschers Ausführungen liegen darin, dass sie dem Leser in aller Deutlichkeit unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt vor Augen führen. Sichtweisen, die ihre Berechtigung haben, aber auch immer kritisch hinterfragt werden müssen. Wissenschaft und Narration können jedenfalls ganz gut nebeneinander und auch bestens miteinander bestehen.
Martin Kasperzyk/ März 2025