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Jan Philipp Reemtsma – Sagt, hab ich recht?

Reemtsma, hab ich recht
Autor/Autorin: Jan Philipp Reemtsma

Seitenanzahl: 96

Sprache: deutsch
Verlag: Hamburger Edition
ISBN:‎ ‎ 978-3868543964

Der schmale Band versammelt drei Reden Reemtsmas zu unterschiedlichen Anlässen aus dem Jahr 2024, in denen es ihm gelingt, aktuelle Themen wie den Antisemitismus und den Krieg Israels in Gaza als Folge des 7. Oktober 2023 ins richtige geschichtliche Licht zu rücken.

Kurz und präzise vermag der Autor diese Themen rational und historisch zu durchdringen und auf ihren wahren und irrationalen Kern zurückzuführen. Letztlich – so das Fazit der drei Reden, fallen wir zurück in die schlimmste Barbarei, wenn wir der öffentlichen Unvernunft, dem Antisemitismus oder einer einseitigen „Israelkritik“ folgen würden.

Aufklärung

Im ersten Text geht Reemtsma von der Kantischen Bestimmung dessen, was Aufklärung ist, aus, und skizziert die Kritik daran. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei Christoph Martin Wielands Ausführungen über die Freiheit der Presse.

Für Kant besteht Aufklärung bekanntlich darin, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Schnell vermuteten einige seiner Kritiker wie Johann Georg Hamann, dass er mit der unbedingten Veröffentlichungsfreiheit seiner Meinung nur die Gebildeten meint. Dies reicht aber nicht aus, denn jedermann sei berechtigt, die Menschheit aufzuklären. Nach Wieland ist Aufklärung daher nicht allein der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sondern mit seinem Meinungsbeitrag Teil der öffentlichen Debatte zu werden. Aufklärung ist Dialog und Gespräch in Permanenz.

Wenn aber jeder mitsprechen darf, dann wird es unübersichtlich und gleitet schnell ins Unvernünftige ab. In dieser Situation bedeutet Aufklärung nicht nur, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern die immerwährende Bemühung, sich dem Unsinn in der Öffentlichkeit zu widersetzen. Zum Beispiel, indem man Phrasen, Gedankenroutinen oder reflexhaftes Verhalten als solche benennt und aufdeckt.

Antisemitismus

Der Autor skizziert in dem zweiten Vortrag die Geschichte des Antisemitismus und zeigt, wie sehr wir selbst in diesen geschichtlichen Vorprägungen stecken, wenn wir uns zum Komplex Israel-Hamas äußern. Überzeugend zeigt er, dass alle Argumente für den Antisemitismus letztlich ins Leere laufen bzw. schnell widerlegt werden können. Denn die Legitimationsrhetorik des Antisemitismus kommt am Ende immer auf sich selbst zurück. Es bedarf gar keiner Ideologie, denn seine Argumente speisen sich letztlich aus Ressentiments, die nur für sich selbst stehen und keiner Begründung bedürfen. Die Pflege der Ressentiments, so Reemtsma, bringt seelischen Gewinn, mit ihr lässt sich am leichtesten ein Überlegenheitsgefühl gewinnen.

Allerdings muss man mindestens drei Unterscheidungen machen. Antisemit ist nicht gleich Antisemit. Es gibt den „normalen Antisemiten“, der die Wahrnehmungs- und Denkmuster des antijüdischen christlichen Abendlandes übernommen hat und die „antisemitischen Schläfer“, die ihre Fahne nach den Wind hängen. Und dann gibt es noch die “radikalen Antisemiten“, wie Hitler einer war.

Gefährlich ist der Antisemitismus deshalb, weil er international verbreitet ist. Der Antisemit ist nie allein, sondern kann sich wohlig einrichten in eine internationale „Ressentimentgemeinschaft“. Das bedeutet, um es in klaren Worten zu sagen: ungehemmt bösartig zu sein und die Schranken der Zivilisation einzureisen.

Magdeburg oder der Abscheu

Reemtsma geht in diesem dritten Vortrag von der furchtbaren Brandschatzung Magdeburgs im dreißigjährigen Krieg am 20. Mai 1631 aus. „Die Soldaten rannten truppweise mit blanker Waffe durch die Straßen und mordeten unterschiedslos Greise, Weiber und Kinder, solche, die sich verteidigten, und solche, die keinen Widerstand entgegensetzten.“

Der Abscheu, den die Gräuel von Magdeburg erregte, war ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Transformation der gesellschaftlichen Einstellung zur Gewalt in Europa. Gewalt galt seit dem Ende des 18. Jahrhundert in Europa als problematisiert. Folter und Todesstrafe wurden abgeschafft und es bestand weitgehend Konsens, dass in Kriegen möglichst wenig Menschen (nämlich nur die Soldaten) in Mitleidenschaft gezogen werden sollen, die Zivilbevölkerung aber zu schützen sei. Kurzum: Gewalt war legitimationsbedürftig. Dies hat einen zivilisatorischen Fortschritt in Europa gebracht.

Mit dem deutschen Rassen- und Vernichtungskrieg in der Sowjetunion ist nach dieser Einhegung der Kriegsgewalt jedoch eine neue Dimension kriegerischer Gewalt in die Geschichte gekommen: der unterschiedslose Tod von Soldaten und Zivilisten als Kriegsziel. Wenn man so will: es fand eine Re-barbarisierung der Gewalt statt.

Reemtsma spannt dann den Bogen zum heutigen Krieg Israels in Gaza, der in kein bisheriges Schema passen will. Im Grunde handelt es sich um einen Guerillakrieg, in dem von Seiten der Hamas die Zivilbevölkerung bewusst einbezogen wird. Und wie jeder Krieg gegen die Guerilla muss dieser wenigstens in gewissem Maße zu einem Kampf gegen die Zivilbevölkerung führen. Das ist die militärische und die völkerrechtliche Crux. Die völkerrechtliche Verlegenheitsformel, auch ein Verteidigungskrieg müsse verhältnismäßig sein, wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt – und doch obsolet. Denn es ist die Strategie der Hamas, Israel zu einem Krieg zu zwingen, wo die Bomben unterschiedslos Hamas-Krieger und die Zivilbevölkerung gleichermaßen treffen.

Reemtsma findet starke und einprägsame Worte: er nennt dies eine Selbstfeier von Mördern und Vergewaltigern. Wir stehen heute nach den Ereignissen des 7. Oktober 2023 nicht weit entfernt von der mörderischen Barbarei, die sich in Magdeburg 1631 vollzog. Diese Selbstfeier erregt Abscheu und Ekel – wie damals. Diese Abscheu, so Reemtsma, gehört zum Kostbarsten, was wir haben. Er ist das Fundament unserer zivilisatorischen Sittlichkeit. Verlieren wir ihn, verlieren wir uns.

Im Juli 2024, Martin Kasperzyk