Spannende Werke warten auf Sie
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152 Seiten
Patmos Verlag
Hardcover
ISBN 978-3843615181
Preis 18,00 €
Der Literaturwissenschaftler und Theologe Karl-Josef Kuschel legt mit seinem Büchlein einen sehr lesbaren und anregenden Essay über Leben und Werk Franz Kafkas vor. Es ist eine wirkliche Freude für den Leser, sich von diesem kenntnisreichen Buch und der souveränen Behandlung des Themas in die „Welt“ Franz Kafkas entführen zu lassen.
In 21 kurzen Kapiteln beschreibt der Autor Leben und Werk Franz Kafkas. Dabei geht er auf das kafkaeske ein, Kafkas Personal, Themen wie Urteil und Schuld, die bohrenden Selbstzweifel Kafkas, das Judentum des Vaters und Kafkas eigene Stellung zum Judentum, das Leben mit dem Gesetz und vor dem Gesetz, Kafka als Bibelleser, Martin Buback als Kafka Leser oder auch Kafkas Lachen. Kuschel hat nicht den Willen, all dies erschöpfend zu behandeln, er skizziert, weist hin und deutet zumindest das an, was wesentlich für das Verständnis Kafkas in den Blick zu nehmen ist. So entsteht ein wohl abgerundetes Bild, kurzum: in Kuschels Buch hat man kurz und bündig, aber keineswegs oberflächlich den „ganzen“ Kafka.
Wir alle kennen das Wort „kafkaesk“. Und nur einer unter den großen der Literatur hat es vermocht, seiner Zeit eine Signatur zu geben, die seinen Namen trägt: Franz Kafka. Denn das Wort kafkaesk ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Interessant ist, dass der früheste Beleg für dieses Wort aus dem Jahr 1938 – 14 Jahre nach dem Tod Franz Kafkas – stammt und dass das Wort in der englischen Sprache geprägt wurde.
Kafkas Menschen sind Menschen einer Zwischenwelt. So heißt es in dem Prosatext „Gespräch mit dem Beter“: „Es gab eine Zeit, in der ich Tag um Tag in eine Kirche ging, denn ein Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, betete dort kniend eine halbe Stunde am Abend, unter dessen ich sie in Ruhe betrachten konnte.“ Der Ich-Erzähler befindet sich in der Kirche, ohne zu ihr einen inneren Bezug zu haben und er kann dort das Mädchen in Ruhe beobachten, ohne freilich zu ihr einen Bezug zu finden. Immer wieder werden solch unverheiratete Männer beschrieben, oft Bewohner zweier Welten: einsame, herumziehende, heimatlose, ruhelose, Figuren ohne klare Identität. Es sind Menschen, die eigentümlich beziehungslos sind.
Nicht wer sie sind, ist entscheidend, sondern was mit ihnen geschieht, was ihnen widerfährt, was an ihnen gezeigt werden kann. Die Figuren werden in Zwischenräume gezogen, wo die gewohnten Gesetzmäßigkeiten aufgehoben sind. Damit wird der Leser mit einer gänzlich anderen Sicht der Wirklichkeit konfrontiert. Es geschehen plötzliche Verwandlungen, plötzliche Verurteilungen oder plötzliche Abbrüche. Man ist sich zum Rätsel geworden und mit der Frage nach der Stabilität der Wirklichkeit überhaupt konfrontiert. In den Erzählungen und Prosatexten geschieht damit eine plötzliche Konfrontation des Menschen mit einer anderen Perspektive als der bisher so sicher geglaubten, krisenfest abgesicherten. Kafka enthüllt, dass man womöglich in seinen Weltansichten Täuschungen erlegen ist.
Kafka hatte einen hellwachen Geist, weil er Abgründe nicht verdrängte, sondern sich ihnen stellte. Die Reaktion des Vaters und der Mutter von Samsa in der Erzählung „Die Verwandlung“ zeigt beispielhaft das Gegenteil, nämlich ein Leben unter Wirklichkeitsabspaltung und unter Verdrängungen, die unfähig machen, Abgründe im eigenen Leben wahrhaben zu wollen und das Unheimliche und Fremde, das in die eigene Familie einbricht, als Zäsur zu erfahren, das Widersinnige und Scheußliche in den eigenen vier Wänden als Bruch aus der Alltagsroutine ernst zu nehmen. Kafka demonstriert hier die Erschütterung der Wirklichkeit und des Alltages sowie die Verdrängungsmechanismen, die einsetzen, um diese von sich fernzuhalten, um im gewohnten Alltagsgleise bleiben zu können.
Schuld ist bei Kafka ein weiteres wichtiges Thema: es geht ihm aber nicht um die Einsicht in ein moralisches oder juristisches Versagen, sondern um das Rätselhafte, Dunkle, letztlich das Geheimnis menschlicher Existenz. Es geht um das Rätsel des Lebens ohne Vertrauen in einen tieferen Sinn, es geht um den Verlust alter Plausibilität ohne die Gewissheit eines letzten Zieles. Dieses uns aufgegebene Rätsel unseres Lebens und die Ausweglosigkeit wird gleichnishaft in einer kleinen Geschichte von Maus und Katze erzählt.
„Ach, sagte die Maus, die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe. Du musst nur die Laufrichtung ändern, sagte die Katze, und fraß sie.“
Kuschel macht deutlich, dass Kafka ein zutiefst an sich selbst Zweifender und ein innerlich Zerrissener war. Bis zum Ende schwankte er zwischen der Bindung an die bürgerliche Welt, die Welt des Vaters, die Welt von Ehe, Familie, Beruf und der Welt der Literatur, der kompromisslosen Hingabe an das Werk. Kafka war sich ganz im Klaren, dass die Vollendung von Kunst in letzter Konsequenz Selbstvernichtung des Lebens bedeutet. Dies beschreibt er in seiner Erzählung „Hungerkünstler“. Der Hungerkünstler stirbt schließlich, weil er die Speise nicht finden konnte, die ihm schmeckt.
Der Theologe Kuschel beschäftigt sich in seinem Buch in mehreren Kapiteln auch mit dem Judentum des Vaters und von Franz Kafka selbst. Auch hier steht Kafka in einem Zwischenbereich. In einem Brief an Max Brod schreibt er einmal: „Weg vom Judentum … Wollten die meisten, … Aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden.“ Man lebt folglich eine Käferexistenz wie Kafkas Gregor Samsa. Eine Schwebeexistenz zwischen Tradition und Moderne.
Im gleichen Brief findet Kafka hierfür das Bild des Seiltanzes. Auf dem Seil zu tanzen bedeutet, auf keinem festen Boden zu stehen, keinen festen Halt zu finden, eben in einem Schwebezustand zu bleiben und hier „tanzend“ im Leben klar zu kommen.
Um einen solchen Schwebezustand geht es auch im „Bericht für eine Akademie“. In diesem Text behandelt Kafka den Grenzgänger zwischen Tier und Mensch. Es geht um den Versuch der Selbstverleugnung als Tier, um sich der Menschenwelt anzupassen, sie „nachzuäffen“ mit dem Ziel, ein Mensch zu werden. So wie es für den Affen keine Rückkehr mehr gibt zu seinem früheren Affenleben, so gibt es auch für Kafka keine Rückkehr in ein orthodoxes jüdisches Leben von einst. Die Situation Kafkas ist eine zwischen Immer-noch-Jude-Sein und Nicht-mehr-Jude-Sein-Können.
Kafkas literarische Texte rufen allerdings einen jüdischen Diskurs nicht auf der texttuellen Oberfläche auf, sondern palimpsestartig und bruchstückhaft verschoben.
Im Buch Kuschels kann natürlich nicht Kafkas Erzählung „Der Prozess“ fehlen. Das Gesetz, über dessen Inhalt die Leser kein Wort erfahren, dürfte – so Kuschel – als eine offene, universale Chiffre zu verstehen sein für etwas undurchschaubar Forderndes, das weder mit moralischen noch mit rechtlichen Kriterien zu greifen ist. Es handelt sich um die Grundsituation von Menschen in unserer heutigen Welt. Das Gesetz existiert und ist für jeden einzelnen da.
Exemplarisch macht die Türhüter- Geschichte klar, dass Kafka nicht daran denkt, Spannungen aufzulösen. Er lässt uns damit allein und verstört uns dadurch. Am liebsten möchte man in diese Geschichte, die so bedrückend und real ist, hineinspringen und den Mann vom Lande aufrütteln. Aufrütteln zu Protest, Anklage und Rebellion und ihm zuschreien: lass doch dieses sinnlose Warten! Erwache aus dem Zustand der Täuschung! Aber solche unauflösbaren Spannungen muten uns die Texte Kafkas nun einmal zu. Er bietet keine Lösungen an, dafür führt er uns in Tiefen der Verwirrung und Verzweiflung.
Wie die Personen seiner Geschichten, so lebte auch Kafka nirgendwo in einer wohltemperierten Mitte, in der Geborgenheit einer Gemeinschaft, ob christlich oder jüdisch, er ist vielmehr in den Zonen der Extreme zu Hause. Auf dem Seil!
Alle Interpretationen von Kafkas Texten bleiben daher stets hinter der Vieldeutigkeit oder der metaphysischen Tiefe der Dokumente zurück, so dass man immer nur Annäherungen erzielen kann. Kafkas Werk ist auch und gerade heute, hundert Jahre nach seinem Tod, erschreckend modern, weil es die Signatur unserer Zeit aufzeigt. Unsere eigene Welt ist eine in ihren Undurchschaubarkeit, Heimlichkeiten und Abgründige. Sein Biograf Reiner Stach schrieb am 28. Juni 2008 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung: „in seinen Romanen ist ja der Gipfel der Pyramide unsichtbar, und in der heutigen Gesellschaft weiß man – trotz der scheinbaren Transparenz – auch nicht so genau, wie es in den obersten Instanzen zugeht… Wer entscheidet in letzter Instanz über die Weltmarktpreise von Öl und Lebensmitteln? Welche Personengruppe hat den größten Einfluss auf die Börsenkurse?“
Unsere globale Welt ist zunehmend undurchschaubar und rätselhaft und jede scheinbare Lösung von Problemen führt zu ungeahnten neuen. Uns bleibt als Menschen aufgegeben, auf dem schwankenden Seil weiter zu tanzen oder ins bodenlose abzustürzen. Dies erkannte bereits Franz Kafka. Lebte er heute, er würde sich sehr bestätigt sehen.