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81vjuaireol. Sl1500
Roman
btb Verlag
217 Seiten

Haruki Murakami, gefährliche Geliebte

Sympathisch ist die Hauptfigur Hajime sicher nicht. Gleich zu Anfang heißt es von ihm, er sei ein Einzelkind mit einem Minderwertigkeitskomplex, der sich selbst als verzogen, schwach und egozentrisch sieht. Diese Adjektive beschreiben ganz gut diesen Menschen. Und ob er diese Schwächen im Laufe seines Lebens überwindet und verarbeitet, ist eine offene Frage, von deren Beantwortung das Urteil des Lesers abhängen dürfte. Als zwölfjähriger heranwachsender Bub verliebt er sich in seine Mitschülerin Shimamoto. Die „Liebe“ bleibt unerfüllt, weil beide noch zu jung sind. Sie brennt sich aber dauerhaft in das Gedächtnis von Hajime ein.

Später verliebt sich der Protagonist in das Mädchen Izumi, die er jedoch bald mit ihrer Cousine betrügt. In Hajime steckt eine tiefe Sehnsucht nach der wahren und einzigen Liebe. Allerdings verquickt sich diese Sehnsucht, aus der ja etwas Fruchtbares und Produktives entstehen könnte, mit der oberflächlichen sexuellen Lust, die er ebenso sucht und findet:

„Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass ich mit diesem Mädchen schlafen wollte.“

Obwohl er in die Cousine von Izumi nicht verliebt ist, suchte er im Sex mit ihr das Gefühl einer elementaren, wütenden und ungezähmten Gewalt.

Seine Freundin Izumi verletzt er mit diesem Betrug so sehr, dass sie sich davon nie wieder erholen und ihm dies auch nie verzeihen wird. Hajime erkennt, dass er an seiner Freundin schuldig geworden ist, aber er beruhigt sich mit den Worten:

„niemand kann die Verantwortung für einen anderen übernehmen.“

Jeder müsse eben mit seinem Leben alleine klar kommen. Auch hier verquickt sich einerseits die Einsicht in die eigene Schuld am Unglück anderer mit einer gleichzeitig oberflächlichen Haltung, dass jeder eben für sein eigenes Schicksal verantwortlich ist.

Mit 30 Jahren heiratet er Yukiko, mit der er zwei Kinder hat. Ihr Vater, ein reicher und gerissener Bauunternehmer, der nicht immer mit ehrlichen Mitteln arbeitet, gibt ihm Geld, um zwei elegante Jazz Bars zu eröffnen. Diese betreibt er erfolgreich, und führt erst einmal ein glückliches Leben: gut verheiratet, zwei Kinder, guter Job, attraktiv.

Shimamoto, seine „erste Liebe“, tritt dann plötzlich und ganz mysteriös wieder in sein Leben. Eines Tages glaubt er nämlich, sie auf der Straße zu erkennen. Er verfolgt sie, traut sich aber nicht, sie anzusprechen. Plötzlich wird er von einem kräftigen Mann festgehalten, der ihm unmissverständlich klar macht, dass er die Finger lassen soll von der verfolgten Dame. Und er übergibt ihm ein Kuvert mit 100.000 Yen, den er später nicht mehr dort findet, wo er ihn deponiert hat. Wer war dieser Mann, vielleicht der Liebhaber der Frau?

Eines Tages sitzt diese mysteriöse und schöne Frau am Tresen seiner Bar. Und sofort erinnert sich Hajime an ihr Zusammensein mit zwölf Jahren. In den weiteren Gesprächen und Begegnungen versichern sich beide, dass sie all die Jahre immer nur an den anderen gedacht haben. Beide finden, dass die Zeit damals, als sie im Wohnzimmer saßen und zusammen Musik hörten, vielleicht die glücklichste in ihrem Leben war. Es ist die Erinnerung an eine unbeschwerte Jugend und die erste Liebe, die, weil sie nicht gelebt wurde, schön und rein war.

Diese Wiederbegegnung bringt den Protagonisten nun völlig aus der Bahn seines bisher glücklichen Lebens. Seine Frau belügt er, um mit Shimamoto zusammen zu sein. Im Laufe der Zeit offenbaren sie ihre Gefühle für einander und versuchen, obwohl sie wissen es ist unmöglich, an die alte, vergangene Liebe anzuknüpfen.

Seltsamerweise versucht Hajime  gar nicht, diese Frau näher kennenzulernen und gibt sich mit ihren Ausflüchten zufrieden. Sie will mich, denkt er, und ich will sie. Aber was erfahren wir von dieser Frau? So gut wie nichts. Sie verschwindet immer wieder für einige Wochen, um dann wieder aufzutauchen. Eine Frau, die von sich behauptet, dass sie in ihrem ganzen Leben nicht einen Tag gearbeitet hat. Ihr einziges Kind war kurz nach der Geburt gestorben.

Schließlich kommt es doch zu einer Liebesnacht mit Shimamoto, deren sexuelle Details genüsslich ausgebreitet werden. Er entschließt sich, sein Leben zu ändern, seine Frau und Familie zu verlassen und mit der Geliebten zusammen zu leben. Doch die Liebe ist von einem Unstern verfolgt. Denn bei Shimamoto handelt es sich um einen Art „Todesengel“, der die Absicht hat zu sterben, und zwar zusammen mit ihm. Aber irgendetwas hat sie davon zurückgehalten. Nach der Liebesnacht verschwindet sie spurlos, und zwar endgültig.

Obwohl unser Held zuvor fest entschlossen war, seine Familie zu verlassen, bleibt er nun doch bei ihr. Es scheint, dass Hajime durch den Genuss der einen Liebesnacht mit Shimamoto und durch ihr Verschwinden, befriedigt ist und das weitere Interesse an ihr letztlich verloren hat. So gesehen bleibt er weiter schwach und egoistisch.

In einer anderen Lesart jedoch überwindet er seine Schwäche. Nämlich dann, wenn man – wofür einiges spricht – die Begegnungen mit Shimamoto lediglich als geträumte und herbeigesehnte ansieht. Demnach gelingt Hajime gerade in dieser traumhaften Wiederbegegnung letztlich eine produktive Verarbeitung seiner ewigen Sehnsucht nach Erfüllung einer nicht gelebten Liebe. Er löst den Knoten, der ihn sein ganzes Leben letztlich in allen Beziehungen mit Frauen unglücklich gemacht hat. Er löst sich von der Überhöhung der ersten Liebe, die alle weiteren Beziehungen belastet hat. Mit anderen Worten: nachdem er die tatsächliche Liebe mit Shimamoto träumerisch durchgespielt hat, kann er – befreit von diesem Alpdruck – zurück zu seiner Familie, um hierin seine Erfüllung zu finden.

Für diese Lesart spricht einiges, denn Shimamoto verschwindet ganz so wie ein Traumgebilde. Und wenn sie in der geträumten Liebesnacht sagt:

„Morgen werde ich dir alles erzählen. Wenn ich es dir jetzt erzähle, kannst du nie wieder so sein wie zuvor. Ich wünschte, es würde niemals morgen, sagte sie. Dann würdest du es nie erfahren,“

dann wird Hajime in diesen Worten vielleicht klar, dass die gelebte Liebe die überhöhte, erinnerte Liebe endgültig zerstören würde. Mit dieser Einsicht befreit er sich dann von der Sehnsucht nach der Erfüllung einer unerfüllbaren Liebe.

Das Buch führte im literarischen Quartett im Jahr 2000 zum Eklat und zum Zerwürfnis zwischen dem Literaturkritiker Reich-Ranicki und Sigrid Löffler. Während jener das Buch unter Verweis auf die sanfte Liebesgeschichte lobte, verriss Frau Löffler das Buch. Beide sind über das Ziel hinausgeschossen, beide haben in gewisser Weise aber Recht.

Murakami verzaubert nicht mit seinem Text, die Sprache ist direkt, die Sätze sind einfach gebaut und wenig poetisch. Allerdings wird der Leser durchaus in den Sog der Geschichte hinein gezogen, weil man doch neugierig ist, wie die Geschichte um die mysteriöse Shimamoto weitergeht. Und die Doppelbödigkeit (Lust und wahre Gefühle, Kraft der Erinnerung und Hemmung durch sie) sollte man nicht übersehen.

„Gefährliche Geliebte“ ist sicher auch ein Buch über den Verfall und die Unbeständigkeit allen Glücks sowie die Unwiederbringlichkeit von allem. Das Buch mahnt daher auch an die traurige Wahrheit, dass nichts rückgängig gemacht werden kann.

Im November 2024