Spannende Werke warten auf Sie
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Wir laden Sie ein, an unseren gemeinsamen Veranstaltungen, Reisen und Lesungen an besonderen Orten, teilzunehmen. Weiteres erfahren Sie in der jeweiligen Veranstaltungsbeschreibung.
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Die äußere Handlung dieser Erzählung der Nobelpreisträgerin Han Kang ist sehr reduziert. Eine junge Koreanerin, deren Namen wir nicht erfahren, lernt in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul altgriechisch. Sie hat ihre Fähigkeit zu sprechen verloren, wobei der genaue Grund hierfür unklar bleibt. Der ebenfalls namenlose Griechischlehrer muss sich mit einem anderen körperlichen Leiden abfinden: er erblindet zunehmend. Beide Charaktere haben also ihre äußeren Sinne verloren oder stehen kurz davor, sie zu verlieren. Die Namenlosigkeit der beiden verweist schon darauf, dass sie aus der Gesellschaft weitgehend herausgefallen, also Außenseiter sind. Denn ohne Namen bist du nichts und gehörst nicht dazu.
Erzählt wird die langsame Annäherung der beiden, die jeweils in ihrer eigenen Gedanken- und Traumwelt leben. Doch wer hier eine amouröse Liebesbeziehung wittert, geht fehl. Wir erfahren von den beiden scheinwerferartig das Notwendigste in Rückblenden auf ihr Leben. So erlebte der Mann die prägenden Ereignisse seines Lebens in Deutschland, wohin seine Familie übersiedelte. Er war da 15 Jahre alt und 31 Jahre als er wieder nach Korea zurück kehrte.
Das meiste spielt sich also im Bewusstsein der beiden Protagonisten ab. Ihre körperlichen Gebrechen führen dazu, dass sie mehr als andere Menschen sich mit sich selbst beschäftigen müssen und können. Dieses Romansetting erlaubt der Autorin in dieser Beschäftigung mit sich selbst die existenzielle Fragen aufzuwerfen.
Die Sprache des Romans ist von einer eleganten und poetischen Qualität. Feinsinnig beleuchtet der Roman eine Begegnung zwischen zwei Menschen, die sich jenseits von verbaler Kommunikation ereignet. Sprache (bei der Frau) und Blicke (bei ihrem Lehrer) fallen als Medium der Begegnung aus. Das erschwert die Verbindung einerseits, macht die gegenseitige Annäherung aber umso sensibler, feiner und bedeutsamer. So verständigen sich die beiden, indem die junge Frau mit ihrem Zeigefinger langsam und deutlich auf seiner Haut, auf die Innenfläche seiner Hand schreibt. Es ist eine Annäherung im Schweigen. Kang beschreibt dies in einem wunderschönen Bild: „wenn der Schnee ein Schweigen ist, das vom Himmel fällt, dann ist der Regen vielleicht ein endloser Sturzbach aus Sätzen.“ Das leichte Fallen des Schnees beschreibt sehr schön die gegenseitige und schweigsame Anziehung der beiden.
Währen der Lehrer sich zu der stummen Frau zunehmend hingezogen fühlt, entdecken die beiden, dass ein tiefer Schmerz sie verbindet. Sie hat in nur wenigen Monaten sowohl ihre Mutter als auch den Kampf um das Sorgerecht für ihren neunjährigen Sohn verloren. Für ihn ist es der Schmerz, zwischen Korea und Deutschland aufgewachsen zu sein, zwischen zwei Kulturen und Sprachen hin und her gerissen zu sein. Eine sich anbahnende Liebe muss vielleicht erst durch Schwierigkeiten, oder sogar den Schmerz hindurch gehen, wenn sie tief und fest sein soll – so die offene Frage.
Auch hierfür gibt es im Buch eine gelungene Sentenz: „Schönheit ist schön, Schönheit ist schwierig, Schönheit ist vornehmen.“ Schwierig ist das Ganze schon deshalb, weil die Stille der Frau für den Mann erschreckend ist und ihn an sein Gefühl erinnert als er noch als Kind den toten Körper seines Vogels beerdigte. Die Stille ist also nicht nur das Medium einer sensiblen Annäherung der beiden, sondern auch der Vorhof des Todes. Liebe und Tod werden so ganz subtil miteinander in Verbindung gebracht.
Eine weitere schon vom Philosophen Sokrates aufgegriffene Verbindung scheinbarer Gegensätze findet sich in den Wörtern „leiden“ und „erkennen“; Worte, die im Altgriechischen sehr ähnlich aussehen und klingen. Beides hat tatsächlich mehr miteinander zu tun hat, als es auf den ersten Blick erscheint.
Den Roman sollte man mindestens zweimal lesen, um die vielen Andeutungen und Verweise aufeinander zu verstehen. Wie heißt es an einer Stelle: „Alles besteht aus Bruchstücken, alles zerbricht in Bruchstücke. Und verschwindet.“ Aber bevor es verschwindet, ist es Wert, diese Bruchstücke zu einem Mosaik des Lebens zusammen zu fügen. Der Roman folgt dieser Spur in seiner bruchstückhaften Struktur. Er entwirft ein sehr feines Netz an Bedeutungsebenen (u.a. Tod und Stille, Liebe und Schmerz, tote Sprache und Sensibilität für das Wesentliche), die sich dem Leser nicht leicht erschließen. Ein sehr lesenswerter, berührender und gedankenreicher Roman.
Im November 2024