Spannende Werke warten auf Sie
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Daniel Kehlmann – Über Leo Perutz
Dieses etwa 100 Seiten starke Büchlein bietet natürlich keine umfassende Darstellung des Werkes von Leo Perutz, der Leser muss hier vielmehr mit einem – allerdings anregenden – Appetizer vorlieb nehmen. Daniel Kehlmann geht nur auf wenige Erzählungen ein und skizziert in groben Zügen wichtige Themen aus den Werken, wobei er sich mehr als die Hälfte des Buches dem Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ widmet. Dieses Ungleichgewicht sei ihm verziehen, denn die Hauptsache wäre doch die, dass er in seinem persönlichen und subjektiv gefärbten Buch die leidenschaftliche Aufmerksamkeit für diesen außergewöhnlichen Autor neu erweckt. Leo Perutz hat es verdient, denn dieser Halbvergessene gehört zu den ganz großen Autoren des 20. Jahrhundert.
Wer mehr erfahren will, sollte seine gut verfügbaren Werke lesen und die ausführliche – im Wiener Zsolnay Verlag erschienene – Biografie von Hans Harald Müller: „Leo Perutz. Biografie“.
Daniel Kehlmann stellt heraus, dass Leo Perutz der Meister des Prinzips „Handlung“ und ein genialer Dramaturg des menschlichen Schicksals ist. Seine Geschichten bleiben meist bis zum Schluss spannend und werden oft erst am Ende aufgelöst. Sicherlich ist er kein großer Stilist und man lacht, obwohl er viel komödiantisches Talent hat, nur selten beim Lesen laut auf. Und auch wenn es bei Perutz oft um Wirklichkeitsbrüche und Träume geht, so wird die Logik des Alltags doch nie so weit in jene des Traumes aufgelöst wie in den Fiktionen von Franz Kafka.
Wie etwa ein Wunder funktioniert, kann man u.a. in seiner Erzählung „Herr erbarme dich meiner“, veröffentlicht 1930, nachlesen. In dieser Novelle geht es um ein Ehrenwort und den Kampf zwischen Neigung und Pflicht. In aussichtsloser Lage findet der Protagonist wider Erwarten zu seiner verloren geglaubten Familie, seiner Frau und Kind, und damit zu einem Sinn in seinem Leben zurück. Zugleich muss er diese wieder aufgeben, weil er sich an ein Ehrenwort gebunden glaubt. Kehlmann weist auf den metaphysischen Kontext hin: auch Gott hat gewissermaßen sein Wort gegeben, auch der Schöpfer bricht nicht sein Versprechen an die Welt. Dieses Versprechen ist die Kausalität. Es gibt keine Wirkung ohne Ursache.
In vielen von Perutz‘ Romanen kommen den Menschen ihre Identitäten abhanden. In „Der schwedische Reiter“ erweist sich die persönliche Identität als etwas so ephemeres, dass zwei Männer ohne große Schwierigkeiten ihre Plätze im Leben tauschen können, und jeder dann schließlich den geziemenden Tod des anderen stirbt. Die Welt der Protagonisten in Leo Perutz Romanen ist also brüchig und unheimlich und kann schnell ins Traumhafte umschlagen. Kehlmann weist darauf hin, dass das tiefe Erschrecken über die Zufälligkeit der eigenen Existenz und Identitätsumstände ein verbreitetes Motiv der Wiener Moderne war.
Dass das Leben ein Traum sein kann, zeigt sich in dem 1933 erschienenen Roman „St. Petri – Schnee“: der Held erlebt die ganze Handlung als Traum, besonders auch als Sterbetraum. Perutz hat dieses Handlungsprinzip schon in seinem früheren Roman „Zwischen neun und neun“ verwendet, wobei dort erst auf der letzten Seite alles zuvor Geschehene als die traumhafte Agonie des sterbenden Helden erkennbar wird. In „St. Petri – Schnee“ ist dagegen die ganze Erzählung von Unwirklichkeit durchströmt.
Mehr als die Hälfte des Büchleins von Daniel Kehlmann nimmt allerdings der Roman „Nachts unter der steinernen Brücke aus dem Jahre 1953 ein. Kehlmann hält dies zu Recht für das wirkliche Meisterwerk von Perutz, ja sogar für ein – allerdings bis heute kaum gelesenes – Meisterwerk der deutschen Literatur. Der Roman besteht aus scheinbar unzusammenhängenden Kapiteln und erst nach und nach wird dem Leser begreiflich wie alles miteinander zusammenhängt.
Alles in dieser Geschichte ist widersprüchlich, und doch geht alles perfekt auf. Die Geschichte kreist um den träumenden Kaiser Rudolf II, den Geschäftsmann Mordechai Meisl, seine Frau Esther sowie den Rabbi Löw. Esther war des Kaisers Geliebte. Kehlmann interpretiert diese große Liebe zwischen Rudolf II und ihr als eine Geschichte der Vergewaltigung mit anschließendem Mord. Die scheinbar romantische Liebe Rudolfs II war letztlich ein Akt skrupelloser Gewalt, ausgeübt zunächst gegen die Juden im Getto und dann gegen eine einzelne hilflose Frau.
„Nachts unter der steinernen Brücke“ ist ein Roman, in dem die jüdische Erzähltradition Osteuropas in ihrer Symbiose von magischen Ereignissen, burlesken Anekdoten und zerstörerischer Liebe noch einmal ganz präsent ist. Diese Perspektive verhinderte vielleicht, dass dieses Werk von Perutz nach 1945 rezipiert wurde. Heute sollte dies jedoch kein Hinderungsrund sein, sich mit Perutz zu beschäftigen – es lohnt sich allemal.
Martin Kasperzyk im Oktober 2024