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Carl Hanser Verlag
96 Seiten
Botho Strauss – Herkunft
Geboren am 2. Dezember 1944 in Naumburg gehörte Strauss in Deutschland vor allem in den 1970er bis 1990er Jahren zu den erfolgreichsten Dramatikern, seine Stücke wurden auf deutschen Theaterbühnen oft gespielt. In seinen Publikationen, es sind meist essayistische und aphoristische Texte, zeigt er sich immer wieder als genauer Beobachter zwischenmenschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Entwicklungen, aber auch als Demokratie- und Zivilisationskritiker, wie etwa im Essay „anschwellender Bocksgesang“, der 1993 im Spiegel erschienen ist. Heute lebt er zurückgezogen in der Uckermark.
Anstatt einer Übersicht über Leben und Werk von Botho Strauss – eine solche lässt sich leicht im Internet nachlesen – soll es hier in der gebotenen Kürze um ein einziges Werk von ihm gehen.
Das hier zu besprechende Buch „Herkunft“ hat Botho Strauss in seinem 70. Lebensjahr im Jahre 2014 veröffentlicht. Es ist ein Erinnerungsbüchlein von nicht einmal 100 Seiten – ein zartes Andenken an die eigene Kindheit und Jugend im Rheinland-Pfälzischen Badeort Ems in den 50er und 60er-Jahren und vor allem ist der Text eine liebevolle Hommage an den Vater. In der Beschreibung des Vaters leuchtet uns aber auch einiges entgegen von dem, was den Sohn selbst auszeichnet.
Aber über diese persönliche Vater-Sohn-Beziehung hinaus ist das Buch auch ein gescheites und unsentimentales Nachdenken über das, was wir Erinnerung nennen.
Zunächst erfahren wir einiges über die Marotten und Eigenarten des Vaters, der im Ersten Weltkrieg ein Auge verlor und später Pharmareferent wurde und seine Gutachten zu Hause am heimischen Schreibtisch schrieb. Die gründliche Morgentoilette und der Krawattenknoten mit Einsteckperle sowie die Tatsache, dass er sich zu Hause stets sorgfältig gekleidet an seinen Schreibtisch setzte, weisen ihn als peniblen und akkuraten Menschen aus. Dem Sohn, der seinen Vater lieber gewöhnlicher und nicht so vornehm haben wollte, missfiel dies. Dem Vater jedoch ging es darum, Figur zu machen, sich abzuheben von den gewöhnlichen Zeitgenossen, die sich seiner Meinung nach vernachlässigten. Der Tagesablauf, so schreibt Strauss, war streng geregelt und der Uhr unterworfen. Gegen 12:30 Uhr das Mittagessen, anschließend Lektüre der Tageszeitung, dann zwischen Eins und Drei schlafen, wobei niemand anrufen durfte und an der Tür hing ein Schild „von Eins bis Drei wird nicht geöffnet.“
Es war noch eine Zeit, in der man zum Gruß den Hut zog. „Alle hatten noch ihre Art, ihr reputierliches Benehmen, keine Hand in der Hosentasche und selbstverständlich eine tiefere Verbeugung vor den Lehrern.“ Doch Strauß wäre nicht Strauß, wenn er aus dieser Beschreibung nicht auch eine kleine Lebensweisheit ziehen würde, wie diese: die Behausung und die bergenden Zeremonien waren das, was die Institutionen für die Gemeinschaft bedeuten.
Der Sohn hatte im Grunde ein gutes Verhältnis zum Vater. „Viele Fragen habe ich meinem Vater gestellt und habe immer gute Antworten bekommen.“ Was die Lektüren des Vaters angeht: Thomas Mann war zwar sein bevorzugter Autor, aber er „verriet auch eine fatale Neigung zu harmloser Heiterkeit in der Literatur.“ Der Vater veröffentlichte sogar ein Buch, ein einziges Buch, mit dem Titel „nicht so früh sterben!“
Strauss verschweigt aber nicht den schwierigen Charakter des stolzen Vaters, der zu den Menschen oft abweisend war. Ein kantiger Mann, der lieben und hassen konnte, schwermütig und herrisch war er, jedenfalls kein Anwalt des Sowohl-als-auch. Er war ein „Volksverächter mit törichten Verblendungen, aber niemals ein Rohling.“ Ein grimmig und kraftvoll Unzeitgemäßer war er. Kraftvoll noch in seinen läppischen Empörungen und Irrtümern, so Strauss. „Herkunft“ ist jedoch keine persönliche Abrechnung, sondern ein Buch voller Verständnis für den konservativ und aus der Zeit gefallenen Vater. Denn nach dem Tod des eigenen Vaters fehlte ihm das Geld, um sein Medizinstudium fortzusetzen. Sein Leben war eines harter Versagung: Krieg, Verwundung, verjagt aus der Heimat im Osten und schließlich ein ungeliebter Beruf.
Der Sohn bringt aber mehr als ein bloßes Verständnis für den Vater auf, denn er blickt auch mit großer Dankbarkeit und voller Empathie auf ihn. So schreibt er etwa über scheinbar so Nebensächliches und Peripheres, wie die Hände seines Vaters: diese Hände „gaben mir einen Sinn dafür, dass das Herz eines Menschen vordringen kann bis in seine äußeren Gliedmaßen.“ Gliedmaßen von Güte und Mut. „Die Hand hat mich gestraft und liebkost; sie hat mir die ersten Blumen gewiesen und die erste Zeile im Buch.“
Besonders eindrücklich schildert Strauss, wie er als nun selbst alt gewordener Mensch auf den Tod des Vaters zurückblickt. Daher sei dieses etwas längere Zitat hier erlaubt: „Ich habe deinen Tod nicht zu mir genommen damals, im Jahr des Aufbruchs, 1971. Ich war zum Vorwärtsblicken unterwegs, und die Trauer beugte mich nicht. Ich dachte auch, er käme dir recht. Ich sah, dass du zuletzt genug hattest und dir das Leben zu schwer wurde. Sicher, nur um mich vor dem Angriff des Schmerzes abzuschirmen, habe ich dich für erlöst erklärt. Erst langsam bin ich dann hineingewachsen in deinen Tod … Du einzige Quelle meiner Erinnerung!“
Es sind solche schönen und wahren Sätze, die die Texte von Strauss lesenswert machen. Es sind solche Perlen, die man immer wieder findet in manchmal unbedeutender, zuweilen auch fragwürdiger Prosa.
In der Rückblende auf den Tod des Vaters verquickt sich der eigene selbstbezüglich-jugendhafte Aufbruch des Damals mit dem Selbstvorwurf des Älteren von Heute, nämlich dem Sterben und Tod des Vaters nicht gerecht geworden zu sein. Und gleichzeitig ist da eine Erkenntnis, das damalige Nichtzulassen nachträglich doch in sich aufgenommen zu haben.
Aus dem Resonanzraum seiner Erinnerungen gewinnt Botho Strauss so immer wieder weise und kluge Einsichten. So deutet er seine Erinnerungen als Pfad, auf dem der Vater herüber kommt ins Jetzt und auf dem er zugleich wieder zurückgeht ins Vergangene.
Eine weitere wertvolle Einsicht ist die geheimnisvolle Spiegelung von Fernweh und Heimweh in der Erinnerung, denn das Gedächtnis -so Strauss- ist eine „Variable der Sehnsucht“ nach beidem, eine Variable, in der beides immer gleich unerreichbar bleibt. Denn indem man sich zurückversetzt in jene fernen Tage, als jedes Ding noch im „Geruch der Unschuld“ stand, will man Nähe, die aber nie erreichbar ist.
Das, was war, liegt immer fern der Gegenwart, es ist auch in der Erinnerung ein „unbezwingbares Reich“. Wir blicken, so Strauss, in unsere Frühe wie in die blaue Kugel des Magiers, betrachten unser abgetrenntes und umschlossenes „Weltlein“. Und erzählen wir von dem Verlorenen, wollen wir es teilen mit anderen, stellen wir fest, niemand kann da mit hinein. Die Kugel mit dem eigenen Weltlein bleibt rundum Mein und unzugänglich für jeden anderen.
Und noch etwas kommt hinzu: wer seine Erinnerungen anderen erzählt (wie es Strauss in seinem Büchlein „Herkunft“ tut), befindet sich nicht mehr im unmittelbar- überwältigenden Zustand der Erinnerung, sondern bereits in der reflektierten Distanz dazu. Erinnerung und erzählte Erinnerung sind nicht identisch.
In der Erinnerung an die Eltern zeigt sich schließlich auch etwas, was wir alle mehr oder weniger an uns selbst erleben. Es ist die Verwunderung, dass die frühe Prägung langsam, aber unerbittlich im Alter ihre Wirksamkeit entfaltet. „Man altert geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand.“ Wir sind, wie wir da sind, von gestern her.
Und dies „Von-gestern-her“ ist im Werk von Botho Strauss in der Tat eines der zentralen Motive: es ist der Impuls, man müsse gegen alle Widerstände des flüchtigen Zeitgeistes unbedingt unsere prägenden Traditionen in Kunst und Literatur bewahren und weitertragen. Nicht um ihrer selbst willen, sondern unseretwegen.
Martin Kasperzyk/ Februar 2025